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Die Künstlerin Gisela Paul – Ein bewegtes Leben

“Gisela Horn ist frech”
– so beschrieb einst ihre Lehrerin die Schülerin Gisela Paul, gebürtig Horn, im Klassenbuch. Eine Losung, die, wenngleich tadelnd gemeint, einen Ausblick auf das Wirken und Sein Gisela Pauls geben sollte: Ob als Künstlerin, Christin, Friedensaktivistin oder Mutter, Gisela Paul beschritt in ihrem Leben mutig und oft gegen Widerstände neue und durchaus unkonventionelle Wege.

1941 in Frankfurt/Oder geboren und 1944 gemeinsam mit ihrer Mutter nach Vlotho an der Weser geflohen, erlebte sie die drastischen Umbrüche der Kriegszeit. In den darauffolgenden Jahren ihrer Kindheit und Jugend in Düsseldorf verbrachte sie so viel Zeit wie möglich mit Malen und Zeichnen – wenn es die Eltern erlaubten.

“Spürst du, du sehnst dich nach dem Paradies, dem Vollendeten, nach der ewigen Heimat. Berührt dich diese Sehnsucht nicht überall vor großen Kunstwerken im täglichen Leben? Liebe, glaube, und hoffe.”

Gisela Paul, Aufzeichnungen, 1957

In den ersten Jahren ihres Schaffens war Giselas Werk expressionistisch geprägt. Die ersten Ölgemälde von 1956, Landschaftsaufnahmen des Rheins und des Sonnenuntergangs, fallen durch ihre intensive Farbgebung auf. Zwanzig Ölgemälde in diesem Stil schuf die junge Künstlerin bis 1962, darunter auch ein frühes Selbstporträt.
Nach ihrem Abitur 1962 begann sie ein Kunst- und Pädagogikstudium in Hamburg. Bereits in dieser Zeit beschäftigten sie die Themen, die sich durch ihr Leben und künstlerisches Wirken ziehen sollten: der Glauben, die Kunst, und das Verstehen des Wesenskerns des Menschen. “Lebe ich mein Leben nach Gottes lebendigem Wort? Kann es mir durchs Malen gelingen, den Menschen besser zu verstehen – und wie ist dieses Menschenbild?”

Gisela Paul, Aufzeichnungen, 1965

Der Mensch sollte ein zentrales Motiv ihrer späteren Arbeiten werden, und die Erforschung seines Wesenskernes durch vielfältige Farben, Formen, und Materialien eine ihrer Lebensaufgaben. Über die evangelische Studierendengemeinde lernte sie den Physik- und Mathematikstudenten Hartwig Paul kennen, den sie - nach einem Auslandssemester in Chicago, USA, und ihrem ersten Examen für die Sekundarstufe 1 - 1966 heiratete. In den darauffolgenden Jahren bekam das junge Paar drei Kinder, Friedemann (*1967), Renata (*1968) und Emanuel (*1970). Auch als Mutter ließ Gisela ihre Kunst nicht ruhen: An der Folkwangschule in Essen beschäftigte sie sich 1968 bis 1970 mit verschiedenen Techniken der Radierung, und bereitete ihre erste Einzelausstellung vor, welche 1970 in der Kreissparkasse Dorsten stattfand.

1972 zog die Familie nach Choma, Sambia, wo Gisela und Hartwig als sogenannte Entwicklungshelfer*innen an einer Sekundarschule tätig waren. Während Hartwig „eigentlich nur im Landkreis Tecklenburg wirken“ wollte, zog es Gisela in die Welt hinaus, und sie setzte sich durch. Die Zeit in Sambia prägte Giselas künstlerisches Schaffen nachhaltig: In den drei Jahren entstanden hunderte Skizzen, intensivfarbige Temperabilder, erste Holzschnitte sowie Batiken. Das häufigste Motiv waren Menschen, denen sie begegnete – eine weitere Etappe auf ihrer Suche nach dem Wesenskern der Menschen. Viele Darstellungen muten exotisierend an; ein Spiegel des allgegenwärtigen und zu dieser Zeit wenig reflektierten Rassismus der westlichen Gesellschaften gegenüber Afrika.

In Sambia lernte die Familie Paul den sambischen Jungen Simeon kennen, den sie Ende 1973 bei sich aufnahm. Simeons leibliche Mutter war aufgrund starker Armut und einer Augenerkrankung nur eingeschränkt in der Lage, sich um Simeon zu kümmern. 1975 zog die nun sechsköpfige Familie zurück nach Deutschland und ließ sich in Dorsten, NRW, nieder.
Von 1977 bis 1985 leitete Gisela Paul einen Seniorenmalkurs an der Volkshochschule in Dorsten und verarbeitete künstlerisch ihre Zeit in Sambia: Sie schuf in diesen Jahren über 100 Aquarelle, Gouachen, Holzschnitte zum Thema „Stillleben mit afrikanischer Figur“. Zudem widmete sie sich in verschiedenen Holzschnittserien ihrer unmittelbaren Umgebung („Westfalen“) und ihrem Glauben („Kreuzweg“). 1978 kam ihr viertes leibliches Kind Lukas zur Welt.
Für Gisela war Malen nie ein privates Unterfangen, sondern stets eine gemeinschaftliche Aktivität, die zwischenmenschliche und menschlich-göttliche Verbindung schaffen sollte. Dies führte sie immer wieder in die bildende Kunst und animierte sie, die Begegnung mit Menschen in unterschiedlichen Kontexten und Ländern zu suchen. So unterrichtete Gisela in den achtziger Jahren Kunstgeschichte an der Volkshochschule Dorsten und arbeitete als Kunsterziehern mit Kindern und Jugendlichen an der dortigen Kunst- und Musikschule. Von 1981 bis 1987 gestaltete sie und beteiligte sich an 13 Ausstellungen in NRW sowie München, Ernée, Frankreich, und Crawley, Großbritannien. In dieser Zeit setzte sie sich zunehmend mit der Kunst von Frauen auseinander und ließ sich von ihr inspirieren.
“Ich meine, gute Kunst ist gute Kunst und schlechte bleibt schlechte, egal ob sie von Frauen oder Männern gemacht wurde. Ich selbst habe mich in den letzten beiden Jahren verstärkt für die Kunst von Frauen interessiert und engagiert, weil sie so lange vernachlässigt worden ist, und weil es so viele vergessene Künstlerinnen gibt, die auf ihre Wiederentdeckung warten.”
– Gisela Paul, interviewt von Hilde Heidelmann, 1988

Künstlerisch erkundete sie in diesen Jahren neue Techniken, darunter insbesondere Collagen mit diversen Materialien, welche ab 1984 ihre vorrangige, charakteristische Schaffensform sein sollten. Sie nutzte dafür Gegenstände aller Art – von Schrottteilen über Haushaltsabfälle bis Elemente der natürlichen Welt wie Holz und Stein.

“Es kommt nicht selten vor, dass Gisela Pauls Bild-Ideen im wahrsten Sinne des Wortes auf der Straße liegen. Wie beispielsweise jener geduldig vor sich hin rostende Farbeimerdeckel, den sie unlängst (während einer Fahrradtour) aus dem Main gefischt hat. Das Blech gilt nunmehr als Form-Geber für ein neues Kunst-Stück im Grenzgebiet zwischen Malerei und Plastik. Dort, wo für Gisela Pauls Collagen-Kompositionen nurmehr die Form der Dinge von Bedeutung ist, weil sie ihre Funktion ohnehin schon lange vorher verloren haben. Und das gilt für die entfleischte Fischgräte genauso, wie für den Transformator, der vor seiner Ausmusterung die sogenannte “Neue Technik” mit dem nötigen Strom versorgt hat.”
– Frank Vinken, Journalist bei der WAZ, über Gisela Paul 1988

In diesem Stil entstanden abstrakte Collagen zu “Wasser”, “Himmel”, und “Erde”, sowie figurative Darstellungen der Christusfigur, des Kruzifixes, und des Menschen.
Auch in diesen Werken wird deutlich, was Gisela Pauls künstlerisches Werk ihr Leben lang prägte. Die “Schrott”-Collagen sind eine Auseinandersetzung mit der Wandelbarkeit und Vergänglichkeit des Materiellen - ein Protest gegen die Wegwerfgesellschaft, und auch ein Sinnbild für den christlichen Lebensweg, der am Ende das Irdische für das himmlische Leben verlässt. Ihr Anliegen war es stets, durch ihr Werk das Göttliche mit dem Menschlichen in Austausch treten zu lassen. Insbesondere das Unkonventionelle vermag dies in ihren Augen, sah sie darin doch den Geist Gottes am lebendigsten wehen.
“Das echte Kunstwerk hat eschatologischen Charakter, weil es aus der Sehnsucht nach jenem vollkommenen Dasein entsteht und weil es auf jenes Dasein hinweist. Der Mensch, der einem solchen Werk begegnet, fühlt das Bessere in sich selber aufgerufen, das Werk wirkt in die innere Werdebereitschaft des Betrachters hinein.”
– Gisela Paul, interviewt von Hilde Heidelmann, 1988

1990 verstarb der erst Anfang 20-jährige Simeon kurz nach seiner Rückkehr in sein Herkunftsland Sambia plötzlich. Der Tod Simeons bedeutete einen tiefen Einschnitt für das Leben der Familie Paul, und die Trauer um ihn begleitete Gisela Paul ihr gesamtes restliches Leben jeden Tag.
Sie begann, sich zunehmend den Werken sowie Lebens- und Leidenswegen jüdischer Lyrikerinnen zu widmen. Insbesondere die Schriften von Rose Ausländer, Hilde Domin, Else Lasker-Schüler, Selma Meerbau Eisinger, Nelly Sachs und Gerty Spies berührten Gisela Paul tief und inspirierten sie zu zahlreichen Monotypien und Zeichnungen. So entstanden ab 1994 mehr als 500 farbenvielfältige, transzendentale Malereien und Zeichnungen, welche Ende der 1990er Jahre in Elmshorn ausgestellt wurden. Eines von Giselas Lieblingsgedichten war “Wort an Wort” von Rose Ausländer, dessen Inhalt auf die tiefe Verbundenheit Giselas mit ihren Mitmenschen hinweist:
Wir wohnen Wort an Wort
Sag mir dein liebstes Freund
meines heißt DU

– Rose Ausländer, “Wort an Wort”

In den Neunzigerjahren wurden Gisela und Hartwig gleich mehrfach Großeltern. 1994 kam Daria auf die Welt, gefolgt von Jonathan (*1996), Noa (*1998), und Tabea (*1999), sowie wenig später Carol (*2000) und Lennart (*2005).
Zu Beginn des neuen Jahrtausends entschieden Gisela und Hartwig Paul, nach Caransebes, Rumänien, umzuziehen. Hartwig arbeitete dort als Mathematik- und Physiklehrer an einer Schule, und Gisela war als Kunsterzieherin und Künstlerin tätig. In den drei Jahren Aufenthalt in Caransebes führte Gisela Paul diverse Kunstaktionen mit Kindern und Jugendlichen in Rumänien durch, darunter das Bemalen zweier dreißig Meter langer Wände in Bukarest und Dorsten. Gisela erlernte in diesen Jahren, ihrem Sprachtalent entsprechend, die rumänische Sprache, und sie und Hartwig Paul knüpften tiefe Freundschaften, die bis zu Giselas Tod fortbestanden.
2003 kehrten Gisela und Hartwig Paul nach Deutschland zurück und ließen sich in Ladbergen im Geburtshaus Hartwigs nieder, wo sie gemeinsam mit Hartwigs Schwester Theda bis zu deren Tod 2008 lebten.

Zurück in Deutschland organisierte und begleitete Gisela zahlreiche internationale Mal- und Begegnungsprojekte im öffentlichen Raum. Sie malte, bildete und vernetzte sich unter anderem in Poproc, Slowakei (2004), Livingstone, Sambia (2005), Dorsten (2005, 2007). 2005 gründete Gisela Paul die “Regenbogenwerkstatt e.V.” mit dem Ziel, durch interkulturelle Malbegegnungen die Völkerverständigung zu fördern. Unter dem Motto “Farbe ist Leben” reiste die Malgruppe, bestehend aus jugendlichen Künstler*innen zwischen 11 und 19 Jahren und Begleitung, zu Malaktionen und Begegnungen nach Dormans, Frankreich; Rybnik, Polen; und Veliko Gradiste, Serbien (2006), London und Dorf Mecklenburg (2007), Newtonabbey, Nordirland (2008), Ernee, Frankreich (2009) sowie mehrfach ins “Tent of Nations” nahe Betlehem, Palästina (2011, 2012, 2013). Die Themen der Aktionen: Völkerfreundschaft, Verständigung, Gerechtigkeit, und Bewahrung der Schöpfung. Durch das Malen an großflächigen Wänden im öffentlichen Raum suchte Gisela Paul und die Regenbogenwerkstatt, Kinder und Jugendliche zueinanderzubringen, Kunst außerhalb des strikten Schulraums erfahrbar zu machen, und die Lebendigkeit verschiedener Orte und Lebensrealitäten zum Ausdruck zu bringen.

In den Zeiten in Deutschland wurde Giselas Haus immer mehr zum Atelier. Kaum eine Wand oder Möbelstück, die nicht von Gisela, der Regenbogenwerkstatt, oder ihren Enkelinnen und Enkeln bunt bemalt wurde. Auch zum Ausstellungsort wurde ihr Heim, als sie 2009 stellte in ihrem Garten aus Schrott gefertigten Kruzifixe aus.
„Ich mache keine schönen Sachen für die Wand. Ich mache Dinge, die eine Botschaft haben“ • Gisela Paul in einem Interview mit der WN 2009 über die Schrottkreuz-Ausstellung In den letzten Jahren ihres Lebens litt Gisela Paul unter einer Parkinson-Erkrankung, und sie verbrachte wieder mehr Zeit in und um ihre Wahlheimat Ladbergen. Im April 2014 erhielt sie die Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs. Sie entschied sich gegen eine Chemotherapie, hätte diese ihr Leben doch nur um wenige Wochen verlängert und das Leiden nur vergrößert. Sie hatte Angst, doch die Gewissheit, zu Gott zu gehen und Simeon wiederzusehen, gab ihr Kraft in dieser schweren Zeit.
Sie verstarb am 16. Juni 2014 im Alter von 72 Jahren im Beisein ihres Mannes. Gisela Paul hinterließ ihren Mann, vier Kinder, acht Enkelkinder, zahlreiche Freundinnen und Freunde, Wegbegleiter*innen und Bewunderer*innen, sowie tausende Werke. Diese Website ist ein Versuch, einen Bruchteil ihres Schaffens für die Nachwelt festzuhalten.

„Warum malen Sie?“ –
„Kann man fragen: Warum schwimmt ein Fisch im Wasser? Weil er sonst nicht existieren kann. Es gibt Menschen, die müssen aus innerer Notwendigkeit gestalten, sonst können sie nicht wirklich leben“.

– Gisela Paul, interviewt von Hilde Heidelmann, 1988